Berg "unten ohne"

850 Höhenmeter auf blanken Sohlen, über kantige Kiesel und warme Wiesen. Mit Martl Jung, Deutschlands bekanntestem Barfußwanderer, unterwegs in den Ammergauer Alpen. Ein Selbstversuch von Florian Kinast (Text) und Thomas Linkel (Fotos)

Lesezeit: 15 Minuten

Barfuß-Wandern in den Alpen

Der Wegweiser kennt kein Erbarmen. Das gelbe Schild am Rand der Forststraße vermeldet: noch 75 Minuten bis zum Gipfel. Eineinviertel Stunden? Echt jetzt? Geht’s noch?

75 Minuten sind an sich lächerlich. Normalerweise ein gefühlter Katzensprung. Bei jeder anderen Bergtour markierte das den Auftakt für den Endspurt, das Einbiegen in die Zielgerade. Eineinviertel Stunden Gehen sind ein Witz. Vorausgesetzt, man hat Schuhe an. Das haben wir aber nicht ...

Kurz zuvor war unser Ziel, der Gipfel des Teufelstättkopfs, linker Hand mal kurz aufgetaucht. So weit sah es nicht mehr aus. Ein Trugschluss. Nun bohren sich bei jedem Schritt feine Nadeln im Dutzend in die gefühlt schon längst perforierten Fußsohlen. Wandern auf den Spuren eines Fakirs. Die harmlose Forststraße wird zum Nagelbett.

Bereits weit vor uns dreht sich der Martl um und ruft zurück, man solle lieber das Gewicht verlagern. Und irgendwas mit Federung sagt er noch. Aber der Martl redet sich leicht. Er läuft ja die ganze Zeit nur barfuß durch die Berge und durchs Leben. Er steht da drauf.

Martls Barfußrekord? 567 Kilometer über die Alpen

An diesem eigentlich bezaubernden Frühsommertag in den Ammergauer Alpen sind wir einige lange Stunden unterwegs mit dem bekanntesten Barfußwanderer der Republik.

Martl Jung hängte schon als Teenager die Schuhe an den Nagel und besteigt seitdem "unten ohne" die Berge. Ob auf die Zugspitze oder den Ortler, ob bei Transalp-Touren wie dem Kurzklassiker von Oberstdorf nach Meran oder wie 2009 in der langen Variante von München nach Verona. In vier Wochen 567 Kilometer und 34.000 Höhenmeter. Und das, nochmals zum Mitschreiben: barfuß. Eine gute Gelegenheit, um es in seiner Begleitung selbst auszuprobieren.

Teufelstättkopf statt dem hygge Hörnle

Also runter mit den Schuhen auf dem Wanderparkplatz am Südrand von Unterammergau. Ursprünglich hatte der Martl für die Tour das Hörnle angedacht, Aufstieg von der Südseite, eine ganz leichte Strecke für Barfuß-Einsteiger, man gehe dort fast dauernd wie auf einem Teppich, sagte er noch. Aber dann wählte der Martl doch den Weg auf den Teufelstättkopf, diesen markanten Felsgipfel mit 1.758 Meter Höhe.

Schon die ersten Meter auf dem Schotterweg nach oben sind der Härtetest. Und das die nächsten zweieinhalb Stunden? Der Martl versucht es mit gutem Zureden und erzählt, wie das alles anfing. Wie er als Teenager schon in der Disco barfuß auf der Tanzfläche unterwegs war, wie ihn seine Spezl damals alle auslachten. Dass er sich nur einziges Mal wirklich wehgetan hätte, als er in eine Scherbe trat. Das war im Strandbad am Staffelsee. Und überhaupt, was ihn dabei bewegt.

Wir torkeln Martl unbeholfen hinterher

Während der Martl mit festem Schritt routiniert die ersten 150 Höhenmeter durchmisst und wir in einem ungelenken Eiertanz über das heimtückisch spitze Kieselgeläuf hinwegtorkeln, spricht er viel über Empfindungen und Sinneseindrücke. Dass man barfuß mehr mit der Natur verbunden sei als mit festem Schuhwerk, dass man den Boden ganz anders spüre.

„Durchs Barfußgehen“, sagt er, „entwickelst du wieder einen ganz natürlichen Gang.“ Eine angesichts meiner eigenen Gehweise recht gewagt anmutende These. Warum sind wir eigentlich nicht aufs Hörnle? Über den Teppich?

Bei den nächsten Malen, meint der Martl, ginge das schon viel besser, da würde man sich immer mehr dran gewöhnen.

Welches nächste Mal? Barfuß am Berg? Schuh aufblasen! Nach anderthalb Kilometern eine Abzweigung in Richtung Pürschling, einem nicht zuletzt dank der Terrasse des nur knapp unterhalb des Berggipfels gelegenen „August-Schuster-Hauses“ recht beliebten Ausflugsberg.

Weiches Gras als höchstes Glück

Links und rechts breitet sich allmählich Hoffnung aus. Die schmalen Alibi-Grünstreifen, die sich in Form vereinzelter Grashalme auf Geröllgrund wie sinnlose Zierleisten am Wegrand entlangziehen, öffnen sich in weite Wiesen, benetzt und befeuchtet vom Nieselregen der Nacht.

"Barfuß zu gehen belebt den Körper wie ein doppelter Espresso"

Nichts wie ab vom Weg und rein ins grüne Glück. Ein kleiner Schritt für den Wanderer. Aber ein großer für das Wohlbefinden. Gott mit dir, du Land der Bayern. Heimaterde. Weiches Gras.

Kurze Rast an der unbewirtschafteten Kuhalm. Zeit für eine erste Brotzeit. Und Zeit für ein Gespräch über Kneipp. Den Kneipp. Den Pfarrer und Naturheilkundler, der auch gern mal schuhlos unterwegs war, zu Land und natürlich auch zu Wasser.

„Das Barfußgehen ist etwas wie ein doppelter Espresso“, sagt der Martl, „schon Kneipp wusste, dass es aufweckt, wach macht, den ganzen Organismus wieder in Gang setzt. Da passiert was mit dem Körper.“

Tut es, denn es ist ja nicht so, dass nur einfach die durchlöcherten Fußsohlen schmerzen. Der ganze Kreislauf wirkt durcheinander, überfordert von den neuen Sinnes­erfahrungen, im Kopf immer wieder Schwindel und Verschwurbelung.

Schlamm oder Kuhfladen? Hauptsache warm und weich

Und weiter. Kurz nach der Hütte das nächste Ungemach: Die Route zweigt nach links ab, ein kleiner Trampelpfad, uneben, viele Wurzeln. Abschied vom saftigen Untergrund. Ein letzter wohliger Tritt in eine dunkle Masse, vorne drückt es den schwarzen Baaz zwischen den Zehen hindurch. Ob’s ein Schlammloch ist, ein Moorboden oder gar ein Kuhfladen? So was von egal ..., Hauptsache weich und warm.

Rauf in die zweite Halbzeit. Allmählich öffnet sich der Blick. Langsam stellt sich etwas wie Gewöhnung ein. Der Gang wird fester, sicherer, schmerzfreier. Läuft. Die Füße, reine Kopfsache. Und auch der vor Kurzem noch so weit entfernte Gipfel rückt näher. Vor dem letzten Anstieg große Felsen. Ohne Ecken und Kanten, wohlig rund, im Lauf der Jahrtausende glatt gespült vom Wind, vom Regen, von Eis und Schnee.

Ankunft oben am Teufelstättkopf, auf 1.758 Metern, gut 850 Höhenmeter über unserem Ausgangspunkt. Der Blick Richtung Karwendel links, ins Allgäu rechts. Im Süden die Zugspitze. Ganz unten das Graswangtal, wo Ludwig II., der Märchenkönig, sich sein Schloss Linderhof bauen ließ.

Bergab in Stiefeln? So langweilig!

Gipfel sind immer ein guter Ort, um über das Leben zu räsonieren, so wie nun mit dem Martl über Gott und die Welt, den Mensch und den Fuß. Über die Vorfahren, die in Urzeiten auch ohne Schuhe unterwegs waren, als sie von Afrika aus die Welt besiedelten. Über Babys, die natürlich barfuß geboren werden. Über den Fuß als die einzige haptische Verbindung zu unserer Welt. Über die Bewegungsfreiheit, den Entfaltungsspielraum der 26 Knochen. Dass man den Fuß nicht einsperren sollte in ein Gefängnis.

Und doch nimmt die Selbsterfahrung nun ein Ende. Füße – Schluss mit eurer Freiheit! Für den Abstieg die Wanderschuhe aus dem Rucksack geholt, reinsteigen, zuschnüren. Herrlich. Und dann los, diesmal bergab.

Der Schritt fühlt sich wieder sicherer an, vertrauter, gefestigter. Aber irgendwie auch fader. Ob man auf breiten Kieswegen geht oder durchs Unterholz, über Stock oder Stein, es macht alles keinen Unterschied, fühlt sich alles gleich an. Man hat nicht mehr den Boden in seinen unterschiedlichen Variationen unter sich. Dafür monoschematisch die Oberfläche der Einlegesohle. Irgendwie langweilig.

Elektrischer Weidezaun haut barfuß richtig rein

Der Martl freilich hüpft schuhlos den Berg hinab, federnd und geräuschlos. Ohne das leiseste Geräusch beim Aufkommen, so als würden Fuß und Boden sich bei jeder Berührung sanft aneinanderschmiegen und ineinandergreifen. Was sie wohl auch tun. Die hörbar dumpfe Härte der eigenen Schuhe dagegen: ein eher grober Auftritt.

Barfuß an  Weidezäune fassen? "Da schnalzt’s gleich ganz anders!"

Auf halbem Weg zurück links ein elektrisch geladener Weidezaun. Auch das müsse man beachten, sagt der Martl, barfuß unterwegs habe der Stromschlag beim Hinlangen mit der Hand noch mal eine ganz neue Qualität. „Da schnalzt’s gleich ganz anders. Da biegt’s dir die Zehennägel auf.“

Schwarzer Salamander in den Bayerischen Alpen

Fußerholung in der Schleifmühlklamm

Ganz unten noch ein Abstecher in die Schleifmühlklamm. Eine wildromantische Schlucht, in der die Unterammergauer seit dem 15. Jahrhundert Wetzsteine produzierten und nach ganz Europa exportierten. Die Ammergauer Berge boten mit ihrem kieselsäurehaltigen Kalkstein das perfekte Material für die Wetzsteine, die zum Schärfen der Klingen von Sensen und Sicheln eingesetzt wurden.

In der Blütezeit waren hier bis zu 32 Mühlen in Betrieb, in manchen Jahren verließen 200.000 Wetzsteine die Klamm. Heute ist sie mit dem Bachlauf und den Wasserfällen eine beschauliche Attraktion.

Erst kurz vor Ende der Wanderung kommt auch der Martl mit seinen blanken Füßen an seine Grenzen. Auf Passagen, deren Belag nicht natürlich ist, sondern menschengemacht. Etwa bei langgezogenen Fußgängerbrücken mit Eisengittern, engmaschig und scharfkantig.

Da freut sich auch der Martl, wenn er danach seine Füße in die Gumpen am Bach halten kann. Eine verdiente Abkühlung am Ende einer beeindruckenden Tour zu Fuß. Zu Barfuß. Eine Tour voller Reize und Eindrücke, in jeder Hinsicht. Anfangs eine Plackerei, aber letztlich eine hoch spannende Erfahrung. Ging doch!

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